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„Denken!“

Autorin: Prof. Dr. Annette Vowinckel

In der Sonderreihe „Mehr als Eigensinn – Das Schaffen von Thomas Lindenberger“ werden zu Ehren Thomas Lindenbergers, der zum 1. Oktober 2024 in den Ruhestand geht, Texte seiner Weggefährtinnen und Weggefährten publiziert. Mit diesen Beiträgen werden persönliche Erinnerungen an und mit Thomas Lindenberger freigelegt und damit ein Einblick in sein umfassendes und vielfältiges Schaffen gegeben. Bis zum Ende des Jahres wird immer donnerstags ein neuer Beitrag auf dem Blog veröffentlicht.

Die Reihe wird mit einem Beitrag von Annette Vowinckel fortgesetzt. Sie erinnert sich in ihrem Beitrag vor allem an die Dinge, die sie von Thomas Lindenberger über das Fachliche hinausgehend gelernt hat: intellektuelle Redlichkeit, das Durchdenken der Fragen, der Themen und Thesen sowie die grundsätzliche Bereitschaft, sich von einem besseren Argument zum Umdenken bewegen zu lassen. Das sind zuvorderst die Aspekte, die ein Gespräch mit Thomas Lindenberger so wertvoll machen.

Unsere Wege kreuzten sich erstmals, als Thomas Lindenberger mich im Frühjahr 2006 am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) einstellte, welches heute der Leibniz-Gemeinschaft angehört. Thomas leitete dort den Projektbereich „Massenmedien im Kalten Krieg“, in dem ich ein Projekt zur Geschichte der Olympischen Spiele bearbeiten sollte. Sehr schnell ergab sich eine gute und enge Zusammenarbeit. 2007 organisierten wir gemeinsam mit Marcus M. Payk eine internationale Tagung, aus der später der Sammelband Cold War Cultures. Perspectives on Eastern and Western European Societies hervorging.1


Für Thomas markierte diese Tagung möglicherweise den Aufbruch in die neu gegründete Abteilung „Kommunismus und Gesellschaft“, von der aus er später in die Funktion  als Direktor ans Ludwig Boltzmann Institut für Europäische Geschichte und Öffentlichkeit in Wien und schließlich ans Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung in Dresden wechselte. Ich dagegen übernahm 2014 am ZZF die Leitung der Abteilung „Zeitgeschichte der Medien- und Informationsgesellschaft“, für die Thomas mit seinen Forschungen einst das intellektuelle Fundament gelegt hatte.


Eng verbunden fühlte ich mich Thomas sofort in seinem Interesse für Systemfragen: Wie funktionieren Diktaturen? Mit welchen theoretischen Konzepten können wir empirische Forschung flankieren? Was sind die Gemeinsamkeiten, was die Unterschiede zwischen NS-Herrschaft und kommunistischer Parteidiktatur? Sind die Begriffe „Faschismus“ und „Totalitarismus“ noch zeitgemäß, welchen Erkenntniswert versprechen sie? Was prägt den Alltag in Diktaturen und welche Handlungsspielräume haben die Menschen, die in ihnen leben? Viele solcher Fragen hatte ich bereits während der Arbeit an meiner Dissertation über Hannah Arendt gestreift, mit Thomas konnte man sie wunderbar weiter diskutieren.


Ich habe von ihm aber auch Einiges gelernt, das über das Fachliche hinausgeht (auch wenn es im Verborgenen damit verbunden ist). Dazu gehört eine Lektion in intellektueller Redlichkeit – ein altmodischer Begriff, aber doch der passendste, der mir in den Sinn kommt. Ich meine damit eine Form des Argumentierens, die weder Moden folgt noch wohlfeil ist noch nach kurzlebiger Aufmerksamkeit heischt, sondern bei der es stets um die Sache selbst geht. Thomas denkt nicht über etwas nach, er durchdenkt etwas, bis er zu einem Ergebnis kommt, und dieses Ergebnis stellt er zur Debatte – stets bereit, sich von einem besseren Argument zum Umdenken bewegen zu lassen.


Ich habe von Thomas noch etwas anderes gelernt: Wenn es am ZZF darum ging, Dinge durchzusetzen wie die Formierung eines neuen Themenschwerpunkts oder das Akquirieren von Ressourcen, hörte man von ihm gern den knappen Imperativ: „Bildet Banden!“ Das war eine konzise Übersetzung der politischen Theorie Hannah Arendts in Alltagssprache. Sie verweist darauf, dass Macht nur dort entsteht, wo sich Menschen zusammentun und gemeinsam handeln, um ihre Interessen durchzusetzen oder Veränderungen zum Besseren herbeizuführen. Thomas verband den Satz möglicherweise weniger mit Hannah Arendt als mit seinen Forschungen zur Geschichte Sozialer Bewegungen. Das aber war sekundär, denn das Ergebnis war das Gleiche: die Erkenntnis, dass man als Einzelkämpferin bzw. Einzelkämpfer weniger erreicht, als wenn man Allianzen schmiedet und solidarisch agiert.


Und damit komme ich zu meinem letzten Punkt: Thomas hat am ZZF die Gleichstellung der Geschlechter gefördert, weil es ihm – im bestmöglichen Sinn – völlig egal war, ob Argumente von Männern oder Frauen vorgebracht wurden. Das klingt selbstverständlich, war es in einer stark männlich dominierten Umgebung (damals mehr als heute) aber keineswegs. Dass Thomas mir 2007 kommissarisch die Leitung seines Forschungsbereichs übertragen hat, habe ich nicht als Akt der Frauenförderung empfunden, sondern als Ausdruck professioneller Anerkennung.


Was ich an Thomas schätze, sind seine Neugier, Offenheit und Streitbarkeit. Während meiner Zusammenarbeit mit ihm hatte ich stets das gute Gefühl, gesehen, geschätzt und intellektuell respektiert zu werden. Dafür möchte ich mich von Herzen bedanken.

Zitiervorschlag: Annette Vowinckel, „Denken!”. In: Denken ohne Geländer. Der Blog des Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. vom 03.10.2024: https://haitblog.hypotheses.org/5809.

Beitragsbilder:

Bild 1: Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF)

Bild 2: Angela Dittrich

  1. Annette Vowinckel/Marcus M. Payk/Thomas Lindenberger (Hg.), Cold War Cultures. Perspectives on Eastern and Western European Societies, New York 2012. []

OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
haitblog (3. Oktober 2024). „Denken!“. Denken ohne Geländer. Abgerufen am 7. Februar 2025 von https://doi.org/10.58079/12etp


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