Geschichte als politische Praxis
Autor: Prof. Dr. Michael Wildt
In der Sonderreihe „Mehr als Eigensinn – Das Schaffen von Thomas Lindenberger“ werden zu Ehren Thomas Lindenbergers, der zum 1. Oktober 2024 in den Ruhestand geht, Texte seiner Weggefährtinnen und Weggefährten publiziert. Mit diesen Beiträgen werden persönliche Erinnerungen an und mit Thomas Lindenberger freigelegt und damit ein Einblick in sein umfassendes und vielfältiges Schaffen gegeben. Bis zum Ende des Jahres wird immer donnerstags ein neuer Beitrag auf dem Blog veröffentlicht.
Michael Wildt blickt zurück auf die gemeinsamen Jahre mit Thomas Lindenberger als „Grenzgänger“ zwischen Geschichtswerkstätten und der akademischen Geschichtswissenchaft.

Thomas und ich lernten uns kurz auf dem „Geschichtsfest“ in West-Berlin 1984 kennen, das die Berliner Geschichtswerkstatt, in der Thomas aktiv war, organisierte und zu dem sie Geschichtsinitiativen aus der ganzen Bundesrepublik einlud, um Arbeitsergebnisse und Erfahrungen miteinander auszutauschen – mit spektakulärem Erfolg. So diskutierten in der Sektion, die sich mit den Veranstaltungen zum 50. Jahrestag der nationalsozialistischen Machteroberung 1933 beschäftigte, über 100 Initiativen über ihre Forschungen, Ausstellungen, Broschüren zur konkreten „Machtergreifung“ in ihren Orten.
Parallel fand in West-Berlin auch der – damals wie heute immer noch so genannte – Historikertag statt (an dem dennoch zahlreiche Historikerinnen teilnahmen), auf dem ebenfalls eine stark besuchte Podiumsdiskussion unter anderem mit Hans-Ulrich Wehler, Lutz Niethammer über Alltagsgeschichte für Furore sorgte. Auch Thomas war involviert, da er vom Sender Freies Berlin eingeladen wurde, im Fernsehen mit Ernst Nolte und Jürgen Kocka über die sich verändernden Perspektiven in der Geschichtswissenschaft zu diskutieren – eine denkwürdige Debatte, die leider auf Youtube nicht dokumentiert ist1.
1985 folgte das „Geschichtsfest“, nun organisiert vom bundesweiten Netzwerk „Geschichtswerkstatt e. V“. in Hamburg, 1986 in Dortmund. Dort reichten Alf Lüdtke und Hans Medick eine Einladung nach Rom, um dort die neuen Ansätze der Geschichtsschreibung in der Bundesrepublik vorzustellen, an Thomas und mich weiter – und dieser gemeinsame Ausflug wurde der Beginn einer nunmehr fast vierzigjährigen Freundschaft. Aus den langen Gesprächen während dieser Reise entstand auch die Idee eines Aufsatzes, der Thomas wie mich eingehend beschäftigte, ging es doch um nichts weniger, als die „neue Geschichtsbewegung“, insbesondere die allerorten sich entwickelnden Geschichtswerkstätten, als wissenschaftliche Praxis zu reflektieren. „Radikale Pluralität. Geschichtswerkstätten als praktische Wissenschaftskritik“2 hieß der Beitrag, der 1989 im „Archiv für Sozialgeschichte“ und drei Jahre später in englischer Übersetzung im „History Workshop Journal“ erschien.
In Abgrenzung zur akademischen Geschichtswissenschaft der damaligen Zeit hoben wir hinsichtlich der Geschichtswerkstätten hervor, dass diese Geschichte explizit öffentlich betrieben und als politische Aktion verstanden wurde, als Intervention vor Ort. So konnten die Spuren jüdischer Geschichte, die die Nationalsozialisten hatten restlos austilgen wollen, nur durch lokales, mikrohistorisches Forschen wieder sichtbar gemacht werden. Damals noch unübliche Quellen wie die Oral History und visuelle Darstellungsformen wie Ausstellungen bestimmten anders als die universitäre Geschichtsschreibung, die ausschließlich schriftlich geprägt war, nun auch die Praxis der Geschichtswerkstätten.
In dieser Praxis zeige sich, so unsere damalige These, auch ein neuer theoretischer Horizont: „Der Zerfall der einen Geschichte in plurale Realitäten ist seitdem nicht mehr aufzuhalten; der Kollektivsingular hat nicht nur in seiner patriarchalischen Ausprägung seine zentralisierende und integrierende Kraft verloren.“3 Ausgehend von Michel de Certeau, Jean-François Lyotard und Wolfgang Welsch argumentierten wir, dass nach dem „Ende der Großen Erzählungen“ radikale Pluralität nicht nur neue Perspektiven eröffnen würde, sondern auch seinerzeit heftig umkämpfte Polarisierungen wie Wissenschaft und Aufklärung versus Betroffenheit und Identität, große Geschichte und Alltag, begriffliche Synthetisierung und „Eigen-Sinn“ sich anders beleuchten und innovativ bearbeiten ließen.
Wichtig aber war uns – und dies blieb eine Konstante in Thomas Lindenbergers (und meiner) Auffassung von Geschichtswissenschaft –, dass sie als Repräsentation von Vergangenheit immer auch in gesellschaftliche Machtbeziehungen und spezifische historische wie politische Konstellationen eingebunden ist. Ebenso wie Geschichtsdarstellungen kritisch danach befragt werden können, welches historisch „Reale“ sie herstellen und glaubwürdig machen wollen, wird sich eine kritische Geschichtsschreibung als politische Intervention in der Gegenwart verstehen und Machtbeziehungen infrage stellen. Geschichte geht eben nicht – um hier eine Argumentation von Thomas aufzunehmen, die er an anderer Stelle ausführt – in Erinnerung auf etwas, wie der dominierende kulturelle Diskurs hierzulande behauptet, sondern bedeutet wissenschaftliche Praxis in der Gegenwart, die sich ihrer Historizität ebenso wie ihrer politischen Dimension bewusst ist.
Zitiervorschlag: Michael Wildt, „Geschichte als politische Praxis”. In: Denken ohne Geländer. Der Blog des Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. vom 24.10.2024: https://haitblog.hypotheses.org/6031.
Beitragsbilder:
Bild 1: Archiv für Sozialgeschichte
- Ausschnitte bietet der Beitrag von Hanno Hochmuth, „Public History als Talkshow. Die Debatte um die Alltagsgeschichte im Fernsehen (1984)“, in: Zeitgeschichte-online, Januar 2022, URL: https://zeitgeschichte-online.de/geschichtskultur/public-history-als-talkshow – Red. [↩]
- Thomas Lindenberger/Michael Wildt, Radikale Pluralität. Geschichtswerkstätten als praktische Wissenschaftskritik. In: Archiv für Sozialgeschichte 29 (1989), S. 393–411. [↩]
- Ebd., S. 399. [↩]
OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
haitblog (24. Oktober 2024). Geschichte als politische Praxis. Denken ohne Geländer. Abgerufen am 8. Februar 2025 von https://doi.org/10.58079/12kba