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Denken ohne Geländer – für Thomas Lindenberger

 

Autor: Prof. Dr. Mario Kessler

 

In der Sonderreihe „Mehr als Eigensinn – Das Schaffen von Thomas Lindenberger“ werden zu Ehren Thomas Lindenbergers, der zum 1. Oktober 2024 in den Ruhestand eintrat, Texte seiner Weggefährtinnen und Weggefährten publiziert. Mit diesen Beiträgen werden persönliche Erinnerungen an und mit Thomas Lindenberger freigelegt und damit ein Einblick in sein umfassendes und vielfältiges Schaffen gegeben.

Mario Kessler stellt in seinem Beitrag vor allem die Fähigkeit Thomas Lindenbergers heraus, unterschiedliche lebensweltliche und gesellschaftliche Erfahrungen zusammendenken und zusammenbringen zu können. Eine Fähigkeit, die nicht nur ihre Freundschaft, sondern ganze wissenschaftliche Institutionen bereichert hat.

 
„Anlass des Fotos ist der Dissertationsverteidigung von David Bebnowski im August 2020 am ZZF sind zu sehen: Mario Keßler (Erstgutachter), David Bebnowski (Kandidat), Thomas Lindenberger (Kommissionsmitglied), Frank Bösch (Kommissionsvorsitzender).“
 


Thomas Lindenberger und ich sind vom gleichen Jahrgang 1955. Wir sind in verschiedenen Gesellschaften aufgewachsen, er in der Bundesrepublik und West-Berlin, ich in der DDR, doch beide in intellektuell und kulturell-literarisch sehr interessierten Familien. So brachten die Zeitläufe es mit sich, dass wir uns über gemeinsame Lektüre-Erlebnisse ebenso problemlos austauschen konnten wie über die damals (von uns so benannte) progressive Musik, auch wenn ich Thomas‘ Offenheit, oder sollte ich Vorliebe sagen, für den aufkommenden Punk nicht geteilt habe. Neil Young war für mich nicht „the godfather of the Punk“ wie für Thomas und viele unserer Altersgenossen aus dem West-Berliner Milieu, sondern eher ein elektronisch verstärkter Folk-Musiker.


Weit voraus war und ist mir der Cineast Thomas in der Kenntnis der Filme; hier blieb ich, das gebe ich zu, in der „Goldenen Ära“ Hollywoods stehen, während Thomas sich immer offen für avantgardistische Strömungen zeigt. Voraus hatte er mir natürlich auch die Erfahrung der Kapital-Leselektüre unter Wolfgang Fritz Haug an der FU, wenngleich unser Marxismus-Leninismus-Unterricht (ML) an der damaligen Universität Leipzig mehr war als nur eine Einübung in den Dogmatismus. Jedenfalls war Thomas einer der fachlich wie charakterlich interessantesten Mitstreiter am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) in Potsdam. Ein Vierteljahrhundert ließ sich dort mit ihm trefflich streiten über Perspektiven, Möglichkeiten und Grenzen politischer und ökologischer Emanzipationsbewegungen. Von seinem Kosmopolitismus, seiner Welt- und Sprachkenntnis, um die er nie viel Worte machte, konnte, wer wollte, sehr profitieren.

Dabei gab er nie vor, alles zu wissen (er wusste eine Menge!). So kam er, als er unsere Abteilung Kommunismusforschung am ZZF leitete, oft auf mich zu, um seine Außensicht der DDR mit meiner erlebten Innensicht zu vergleichen. Sein Gespür für das Leben im anderen Teil Deutschlands aber war von Anfang an vorhanden. Gemeinsam mit z. B. Peter Hübner (einem Ostdeutschen) entwickelte er am ZZF eine tragfähige Konzeption über Herrschaft und Eigensinn in der DDR. Lange bevor das Wort multiperspektivisch zum Schlagwort wurde, führte er politische und kulturgeschichtliche Fragestellungen zur DDR-Geschichte zu einer erweiterten Konzeption der Sozialgeschichte zusammen, die den Schwerpunkt von Strukturen, Bilanzen und Balancen auf individuelle und kollektive Akteure der Geschichte legt. Thomas war Mitübersetzer von E. P. Thompsons „The Making of the English Working Class“1, und dass „Making“ mehr ist als das deutsche „Entstehung“ (so der Titel in der deutschen Übersetzung) war und blieb ihm bewusst – daher sein Gespür für die Handelnden der Geschichte. Aber ich gehe wohl nicht fehl in der Annahme, dass seine Schulzeit, zum Teil in Genf verbracht, ihn für immer an die romanische Welt herangeführt hat, und er, der auch Italienisch spricht, hat in seiner zwar nie lässigen, doch gelassenen Art, die Dinge ohne Verbissenheit zu sehen, auch ein Stück Italianità in sich aufgenommen. Habe ich recht, lieber Thomas?

Unsere gemeinsamer Schützling Nikolas Dörr, heute selbst Professor, der in diesem Blog ebenfalls zu Wort kommt, hat in seiner Dissertationsschrift über den italienischen Eurokommunismus als sicherheitspolitische Herausforderung für die USA und die Bundesrepublik seinen beiden Doktorvätern aus Ost und West, also uns beiden, nicht nur für die fachliche Unterstützung, sondern auch für die je verschiedenen Impulse als Zeitzeugen gedankt. Dass Du, Thomas, hier für ein Zusammenführen unterschiedlicher lebensweltlicher Erfahrungen gesorgt hast und dem ZZF damit eine eigene Prägekraft verleihen konntest, kann nicht oft genug betont werden. Na, und unser letztes Bierchen haben wir noch lange nicht gemeinsam getrunken, auch wenn unsere Herzen für sehr verschiedene Fußballmannschaften schlagen. Mehr wird nicht verraten.

 

Zitiervorschlag: Mario Kessler, „Denken ohne Geländer – für Thomas Lindenberger”. In: Denken ohne Geländer. Der Blog des Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. vom 05.04.2025: https://haitblog.hypotheses.org/7049.

Beitragsbild:

Bild 1: ZZF

  1. Edward P. Thompson/*Lotte Eidenbenz/*Mathias Eidenbenz/*Christoph Goffry/*Thomas Lindenberger/*Gabriele Mischkowski/*Ray Mary Rosdale, Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse, 2 Bände, Frankfurt am Main 1987. []

OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
haitblog (9. April 2025). Denken ohne Geländer – für Thomas Lindenberger. Denken ohne Geländer. Abgerufen am 20. Mai 2025 von https://doi.org/10.58079/13prj


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