Demokratie im Aufbruch: Wie sich eine neue Ordnung in Ostmitteleuropa formierte
Kommentar zu Steffen Kailitz/Sebastian Ramisch-Paul/Matthäus Wehowski, Demokratisierung an den Grenzen der Nation. Parlamente, Räte, Volksabstimmungen. Das Dreiländereck Deutschland – Polen – Tschechoslowakei 1918–1921, Marburg 2024.
Autorin: Hedwig Richter
„Außer der Reihe“ bildet neben den Projektbeiträgen ein weiteres festes Format des „Denken ohne Geländer“-Blogs. Dieses bietet Forscher/-innen am HAIT sowie Gastautor/-innen Raum für Beiträge zu aktuellen Themen, die eng mit den Forschungsschwerpunkten am Institut verbunden sind. Die Bandbreite möglicher Perspektiven und Schwerpunkte ist groß. Sie reicht von der Einordnung aktueller politischer und gesellschaftlicher Ereignisse in bestimmte historische, geographische oder kulturelle Kontexte über unkonventionelle, episodische Einblicke in den Forschungsalltag bis hin zur kritischen Auseinandersetzung mit theoretischen oder methodischen Entwicklungen in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften. Im folgenden Beitrag veröffentlichen wir Hedwig Richters Kommentar zu “Demokratisierung an den Grenzen der Nation. Parlamente, Räte, Volksabstimmungen. Das Dreiländereck Deutschland – Polen – Tschechoslowakei 1918–1921”, den Sie im Rahmen der Buchvorstellung gab.

Demokratie ist kein starres Konzept, sondern ein dynamischer Prozess im ständigen Wandel. Dies zeigt sich eindrucksvoll in dem neuen Werk von Steffen Kailitz, Matthäus Wehowski, und Sebastian Ramisch-Paul Demokratisierung an den Grenzen der Nation. Parlamente, Räte, Volksabstimmungen. Das Dreiländereck Deutschland – Polen – Tschechoslowakei 1918-1921, das auf einer breiten empirischen Basis die Demokratisierungsprozesse in Ostmitteleuropa nach dem Ersten Weltkrieg untersucht. Die Fülle an Quellenmaterialien und die Mehrsprachigkeit der Autoren unterstreichen die tiefgreifende Recherche, die in dieses Buch eingeflossen ist.
Ein besonderes Merkmal der Untersuchung ist der Fokus auf verschiedene Regionen mit jeweils eigenen historischen Voraussetzungen. Während in Deutschland eine gewisse staatsrechtliche Kontinuität bestand, mussten Polen und die Tschechoslowakei ihre Staatlichkeit nach dem Ersten Weltkrieg erst neu definieren. Zudem variierten in den Regionen die Erfahrungen mit demokratischen Praktiken erheblich, was die Komplexität der Demokratisierungsprozesse und deren starke Abhängigkeit von lokalen Gegebenheiten verdeutlicht.
Zentral für das Werk von Kailitz, Wehowski und Ramisch-Paul ist die durchgehende Fragestellung, was die Menschen jener Zeit eigentlich unter „Demokratie“ verstanden. Dieser Punkt veranschaulicht die enorme Vielschichtigkeit des Begriffs und wie stark unterschiedlich Demokratie je nach sozialer und politischer Verortung definiert wurde – sei es durch das liberale Bürgertum, sozialistische Bewegungen oder nationale Gruppen. Der tschechische Historiker Václav Smyčka beispielsweise weist darauf hin, dass Demokratisierung im post-habsburgischen Hinterland teilweise als gewaltsame Volksgerechtigkeit interpretiert wurde, die sich gegen Jüdinnen und Juden richtete.1 Dies zeigt, wie ambivalent das Projekt der Demokratisierung sein konnte und erklärt, warum demokratische Ideen so weitreichend auf Resonanz stießen, obwohl ihre konkrete Ausgestaltung oft umkämpft war.
Dieser Band ist ein bedeutender Beitrag zur Geschichte der Zwischenkriegszeit. Obwohl es in diesem Forschungsfeld bereits eine umfassende Literatur gibt, überzeugen die Autoren durch ihre Fähigkeit, an bestehender Forschung anzuknüpfen und gleichzeitig innovative Wege zu beschreiten. Besonders bemerkenswert ist die erstaunlich große Selbstverständlichkeit, mit der Demokratie in dieser Zeit akzeptiert wurde. Ein eindrucksvolles Beispiel hierfür ist die tschechoslowakische Unabhängigkeitserklärung vom 28. Oktober 1918, die abschließend feststellt, dass die Demokratie die theokratische Autokratie besiegt und der Militarismus überwunden wurde. Auf der Grundlage der Demokratie werde die Menschheit neu geordnet, das ersehnte Zeitalter der Menschheit breche an. Demokratie wurde somit als ein universelles Menschheitsziel verstanden – nicht nur von unterdrückten Völkern, auch konservativ-bürgerliche Reformkreise wie etwa der deutsche Historiker Friedrich Meinecke (1862-1954) sahen, dass „der Zug der Zeit eben die Demokratisierung“ sei. Bereits während des Ersten Weltkriegs wurden Zukunftsentwürfe für eine demokratische Ordnung entwickelt. Marcus Llanque hebt in seinem Buch „Demokratisches Denken im Krieg: Zur politischen Theorie im Ersten Weltkrieg“((Markus Llanque, Demokratisches Denken im Krieg: Zur politischen Theorie im Ersten Weltkrieg, Berlin 2000.)) hervor, wie stark solche Vorstellungen auch schon diskutiert wurden. Dadurch wird ersichtlich, wie relevant diese historischen Befunde auch für das heutige Verständnis von Demokratie sind.
Die Autoren präsentieren mehr als nur eine Ergänzung bekannter Narrative. Sie eröffnen einen frischen Zugang zur Geschichte der Zwischenkriegszeit und legen offen, wie selbstverständlich vielerorts der Ruf nach Demokratie war – und zugleich, wie schwierig es sich gestaltete, diese in die Tat umzusetzen. Internationale Abkommen, wie der Friedensvertrag von Versailles (1919) oder die Satzung des Völkerbundes (1919), blieben oft abstrakt, während in den betroffenen Regionen politische Instabilität, Gewalt und gesellschaftliche Spannungen dominierten. Die erhoffte Befriedung durch Volksabstimmungen oder territoriale Neuordnungen stellte sich selten ein, und die resultierenden Konflikte hatten langfristige Folgen.
Ein weiteres zentrales Thema ist die Frage, wie Frieden eigentlich geschlossen wird – ein aktuelles Thema, das auch heute von großer Relevanz ist. Die Autoren bestätigen die Forschung, indem sie aufzeigen, dass Gewalt auch nach dem offiziellen Kriegsende weiterging. Ein Beispiel hierfür ist der erste schlesische Aufstand, bei dem Einheiten des deutschen Grenzschutzes und des Freikorps neun Menschen erschossen, was von der polnischen Militärorganisation für einen lang geplanten militärischen Einsatz genutzt wurde.2 Solche Ereignisse verdeutlichen, wie die Gewalt in vielen Regionen weiterhin präsent war und wie die großen Ideale der Demokratie in der Praxis oft mangelhaft umgesetzt wurden.
Ein zentraler Aspekt des Buches ist das enge Verhältnis von Demokratie und Nation. Liah Greenfeld betont in ihrem Werk „Nationalism: Five Roads to Modernity“3, dass Demokratie ihren Ursprung im Nationalgefühl hat, was erklärt, warum sich der Wunsch nach politischer Teilhabe oft mit nationalen Abgrenzungen verband. Ein inklusives Ideal konnte so schnell zur Ausgrenzung anderer führen – ein Spannungsfeld, in dem Nationalismus, Antisemitismus und Rassismus weiter angeheizt wurden. Der Priester und Landtagsabgeordnete Johannes Kapitza sah in der Demokratisierung beispielsweise einen Weg, Germanisierung zu überwinden4. Diese Verbindung von Demokratie und Nationalismus zieht sich durch die gesamte Untersuchung der drei Autoren und verdeutlicht die Ambivalenzen demokratischer Prozesse.
Doch das Werk verweilt nicht nur bei den Problemen, sondern zeigt auch, wie sich Demokratisierung als umfassender Prozess der Einbeziehung immer weiterer Bevölkerungsgruppen begreifen lässt. Der Soziologe Rudolf Stichweh spricht in diesem Zusammenhang von „Inklusionsrevolutionen“, die eine kontinuierliche Erweiterung demokratischer Teilhabe darstellen. Dies umfasst nicht nur rechtliche Gleichstellung, sondern auch soziale Gerechtigkeit und Bildungschancen, um demokratische Teilhabe dauerhaft zu verankern.5 Besonders interessant ist dabei die Diskussion um die unterschiedlichen Quellen von Demokratie, wie das liberale Bürgertum oder die Arbeiterbewegung, und wie diese zur Vielschichtigkeit und zum Schillern der Demokratie beigetragen haben.
Die Autoren zeigen, dass Demokratisierung kein vorgezeichneter Weg ist, sondern eine Reihe von Experimenten, Erfolgen und Rückschlägen. Die Weimarer Republik kannte durchaus stabile Phasen, doch langfristig fehlte es an einem dauerhaften Gleichgewicht. Volksabstimmungen, Abkommen und neue Grenzziehungen brachten oft keine Befriedung, sondern verschärften Konflikte. So wurden ungewollt Keime für spätere Auseinandersetzungen gelegt, die sich schließlich im Zweiten Weltkrieg entluden.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Provinzialisierung der Demokratiegeschichte. Während Demokratiegeschichte oft von den Zentren aus geschrieben wird, hier mit einer entsprechenden Quellenlage, die relativ bequem zu erreichen ist, verlagern die Autoren den Fokus auf die Peripherie. Dies ermöglicht einen mikrohistorischen Ansatz und eine akteurszentrierte Analyse, die deutlich macht, was Demokratie und Demokratisierung für die gewöhnlichen Menschen bedeuteten und nicht nur für die städtischen Eliten. Durch die Betrachtung der Peripherie erfassen die Autoren einen größeren Teil der Bevölkerung, teilweise die Mehrheit, und zeigen, wie Demokratie und Nationalität in diesen Regionen erlebt und interpretiert wurden.
Die Autoren unterstreichen zudem die Bedeutung der Gleichheit als strukturierende Idee zur Erklärung von Demokratisierungsprozessen. Demokratie wird hier nicht nur als das Recht zu wählen verstanden, sondern als umfassendes Konzept, das soziale Gerechtigkeit, Bildung und ein Leben in Würde für alle Bürgerinnen und Bürger einschließt. Dies wird besonders deutlich in der Diskussion um die Einführung gleicher, freier und geheimer Wahlen in Österreich, die ähnlich wie in Deutschland mit der Idee verbunden waren, dass Demokratie umfassende Sozialreformen erfordert.
Abschließend betonen die Autoren die Aktualität ihrer Forschungsarbeit. Obwohl kein Kapitel explizit darauf eingeht, was die historischen Befunde für die heutige Zeit bedeuten, regt das Buch an, aktuelle Debatten über Demokratie neu zu denken. Die historische Perspektive zeigt, dass Demokratie immer im Spannungsfeld von Idealen und Realitäten, von Einbindung und Ausgrenzung stattfindet. Wer verstehen will, warum demokratische Prozesse bis heute umkämpft sind, findet hier einen wertvollen Schlüssel.
Dieses Buch ist damit nicht nur für Fachleute von Interesse, sondern für alle, die einen tieferen Einblick in die Wurzeln und die Wandelbarkeit demokratischer Ideen gewinnen möchten. Es zeigt eindrücklich, dass Demokratie kein statisches Gut ist, sondern ein komplexes Aushandlungsfeld, dessen Konturen von historischen Erfahrungen, kulturellen Einflüssen und gesellschaftlichen Machtverhältnissen geprägt werden. Die Lektüre bietet somit neue Perspektiven darauf, wie fragil die Entstehung demokratischer Ordnung sein kann – und wie lohnenswert es ist, ihre Entwicklungen und Brüche genau im Blick zu behalten.
Über die Autorin:
Hedwig Richter ist Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität der Bundeswehr München. Ihre Promotion verfasste zur Herrnhuter Brüdergemeine in der DDR an der Universität zu Köln. Nachfolgende Stationen als Postdoktorandin führten sie unter anderem nach Prag, Bielefeld, Washington D.C. und Greifswald, wo sie mit einer “Moderne Wahlen. Eine Geschichte der Demokratie in Preußen und den USA im 19. Jahrhundert.” habilitiert wurde. Mit dem Buch “Demokratie. Eine deutsche Affäre” wurde sie einem größeren Publikum und war für den Bayrischen Buchpreis nominiert, während sie unter ihren Fachkollegen ein gemischtes Echo erzeugte.
Zitiervorschlag: Hedwig Richter, „Demokratie im Aufbruch: Wie sich eine neue Ordnung in Ostmitteleuropa formierte. Kommentar zu Steffen Kailitz/Sebastian Ramisch-Paul/Matthäus Wehowski, Demokratisierung an den Grenzen der Nation. Parlamente, Räte, Volksabstimmungen. Das Dreiländereck Deutschland – Polen – Tschechoslowakei 1918–1921, Marburg 2024.”. In: Denken ohne Geländer. Der Blog des Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. vom 22.10.2025: https://haitblog.hypotheses.org/7412.
Beitragsbilder
Bild 1: Herder Verlag (mit freundlicher Genehmigung)
Bild 2: Fabian Hammerl Photographie (CC-BY-SA 3.0.-PL)
- Vgl. Lena Dorn/Marek Nekula/Václav Smyčka, Zwischen nationalen und transnationalen Erinnerungsnarrativen in Zentraleuropa, Berlin 2021. [↩]
- Vgl. Steffen Kailitz/Matthäus Wehowski/Sebastian Ramisch-Paul, Demokratisierung an den Grenzen der Nation. Parlamente, Räte, Volksabstimmungen. Das Dreiländereck Deutschland – Polen – Tschechoslowakei 1918–1921, Marburg 2024, S. 307–310. [↩]
- Liah Greenfeld, Nationalism: Five Roads to Modernity, Cambridge 1992. [↩]
- Vgl. Kailitz/ Wehowski/Ramisch-Paul, Demokratisierung an den Grenzen der Nation, S. 184–185. [↩]
- Vgl. Rudolf Stichweh, Inklusion und Exklusion. Studien zur Gesellschaftstheorie, Bielefeld 2005. [↩]
OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
haitblog (22. Oktober 2025). Demokratie im Aufbruch: Wie sich eine neue Ordnung in Ostmitteleuropa formierte. Denken ohne Geländer. Abgerufen am 14. November 2025 von https://doi.org/10.58079/1505v

