Transformationsgeschichte 1.0
Ein Kommentar zu Demokratisierung an den Grenzen der Nation. Parlamente, Räte, Volksabstimmungen. Das Dreiländereck Deutschland – Polen – Tschechoslowakei 1918–1921 von Steffen Kailitz, Matthäus Wehowski und Sebastian Ramisch-Paul
Autor: Maciej Górny
„Außer der Reihe“ bildet neben den Projektbeiträgen ein weiteres festes Format des „Denken ohne Geländer“-Blogs. Dieses bietet Forscher/-innen am HAIT sowie Gastautor/-innen Raum für Beiträge zu aktuellen Themen, die eng mit den Forschungsschwerpunkten am Institut verbunden sind. Die Bandbreite möglicher Perspektiven und Schwerpunkte ist groß. Sie reicht von der Einordnung aktueller politischer und gesellschaftlicher Ereignisse in bestimmte historische, geographische oder kulturelle Kontexte über unkonventionelle, episodische Einblicke in den Forschungsalltag bis hin zur kritischen Auseinandersetzung mit theoretischen oder methodischen Entwicklungen in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften. Im folgenden Beitrag veröffentlichen wir Maciej Górnys Kommentar zu “Demokratisierung an den Grenzen der Nation. Parlamente, Räte, Volksabstimmungen. Das Dreiländereck Deutschland – Polen – Tschechoslowakei 1918–1921”, den er im Rahmen der Buchvorstellung gab.

Ab Anfang 1918 zerfielen die großen mitteleuropäischen Imperien. Dieser Prozess war von Gewalt begleitet, die sich nicht nur in militärischen Auseinandersetzungen, sondern ebenso in Streiks, Straßenunruhen und Pogromen zeigte. Dennoch wäre es zu eng gedacht, die letzten Monate des imperialen Ostmitteleuropas allein als Niedergang und Unruhe zu verstehen. Parallel zur Auflösung der alten Strukturen formierten sich Grundlagen für ein völlig neues System. Soziale Hierarchien verschoben sich, Positionen und Prestige einzelner Gruppen wurden neu bestimmt. Wer auf die Herausforderungen blickt, vor denen die jungen Staaten in Ostmitteleuropa um 1918 standen, erkennt Parallelen zu späteren Umbrüchen wie jenen von 1989. Bereits 1918 fand hier eine grundlegende Systemtransformation statt.
Das umfangreiche, fast 500 Seiten lange Buch von Steffen Kailitz, Matthäus Wehowski und Sebastian Ramisch-Paul untersucht diese Prozesse anhand von drei Regionen: Oberschlesien, Teschener Schlesien und Orava. Hier ging Demokratisierung einher mit politischer Partizipation, nationaler Neuordnung und territorialen Verschiebungen. Das Besondere des Bandes liegt in der Kombination von geschichtswissenschaftlichen und politikwissenschaftlichen Zugängen. Einerseits werden die historischen Fakten in ihren Kontext gesetzt, andererseits stellen die Autoren politikwissenschaftliche Fragen, um systemische Regelmäßigkeiten, Machtverhältnisse und Entscheidungsprozesse sichtbar zu machen. Sie überprüfen kontinuierlich demokratische Strukturen wie Räte, Wahlsysteme und Plebiszitkommissionen auf ihre Legitimation und Partizipation und arbeiten Unterschiede zwischen den drei Regionen heraus. So wird deutlich, dass sich die Demokratisierung nicht allein aus den bekannten Impulsen von Persönlichkeiten wie Woodrow Wilson oder Wladimir Iljitsch Lenin speiste. Auch die Versuche imperialer Behörden, ihre Herrschaft durch Zugeständnisse an die Gesellschaft zu erhalten, die Kraft der Arbeiterbewegung als ein alternativer demokratischer Akteur oder eine sozialistische Interpretation von Demokratisierung als Wiedergutmachung für benachteiligte Volksschichten spielten eine Rolle. Diese Vielfalt an Einflüssen auf den Transformationsprozess bleibt in der Forschung oft unzureichend beachtet, doch das Buch arbeitet sie überzeugend heraus. Dabei nehmen die Autoren auch die Sprache der Politik, nationale Propaganda und andere Facetten des politischen Ringens ins Visier, für die die Politikwissenschaft präzise Werkzeuge bereithält.
Allerdings führt die strikte Anbindung an politikwissenschaftliche Begriffe und Kategorisierungen auch zu Einschränkungen. Die durchgängigen Definitionen, Einordnungen und Klassifizierungen können monoton wirken und lassen wenig Platz für anschauliche Einzelschicksale, bunte Alltagsgeschichten oder kulturelle und soziale Phänomene, die doch in dieser Zeit der Umbrüche reichlich vorhanden waren. So werden etwa die Themenbereiche Frauenbewegung, Religionsgeschichte oder Antisemitismus kaum vertiefend betrachtet, obwohl einer der Autoren auf religiöse Themen spezialisiert ist.1 Auch Gewalt als mögliche Form von Kommunikation in Zeiten verstellter Dialogkanäle wird als Aspekt nur gestreift. Die stark politikorientierte Methode erschwert es zudem, nationale Indifferenz genauer auszuloten oder den Einfluss von Experten wie Statistikern, Ethnographen oder Geographen als wissenschaftliche Akteure zu erkennen. Zwar tauchen etwa Personen wie der polnische Statistiker und Politiker Józef Buzek im Buch auf2, jedoch nur als politische Aktivisten, nicht aber als Vertreter einer wissensbasierten Expertise, die den Diskurs über nationale Zugehörigkeiten im Ersten Weltkrieg geprägt hat. Auch die Volkszählungen von 1921 in Polen und der Tschechoslowakei bleiben gegenüber der häufig zitierten Zählung von 1910 eher im Hintergrund, obwohl sie für ein tieferes Verständnis dieser Transformationsgeschichte ähnlich erhellend wären.
Eine weitere Leerstelle ist die weitgehende Ausblendung wirtschaftlicher Aspekte. Wie nach 1989 spielte auch nach 1918 die Ökonomie eine entscheidende Rolle in der Erinnerung und Bewertung von Transformationen. Um diesen Bereich stärker einzubeziehen, wäre es sinnvoll gewesen, den Untersuchungszeitraum ein wenig auszuweiten, etwa bis 1923, um den Abschluss der Hyperinflation in Deutschland und Polen und damit das endgültige Ende der Kriegswirtschaft zu berücksichtigen. Dadurch wären noch deutlichere Parallelen zur späteren postkommunistischen Transformation erkennbar geworden.
Trotz dieser Lücken bereichert das Buch unser Verständnis für die Nachkriegszeit erheblich. Es reagiert auf ältere Forschungsansätze, etwa der marxistischen Historiografie über die Rätebewegungen, und ordnet sie neu ein. Dabei erweist sich, dass Räte nicht nur als gescheiterte sozialistische Experimente interpretiert werden können, sondern auch als wichtige Schritte auf dem Weg zu einer demokratischen Ordnung. Kailitz, Wehowski und Ramisch-Paul zeigen Kontinuitäten zwischen Räten und Plebiszitkommissionen auf und verweisen sogar auf Verbindungen zu den alten kaiserlichen Behörden. So entsteht ein komplexeres Bild, in dem lokale Bedingungen und vor Ort ausgehandelte Kompromisse oft wichtiger waren als große ideologische Programme. Besonders interessant wird dies in wenig untersuchten Regionen wie der Orava, wo sich die national weitgehend indifferenten Bevölkerungsgruppen nicht durch Versammlungen oder Parolen mobilisieren ließen, sondern durch das Versprechen von Sicherheit und einer verlässlichen Versorgung. Dies wirft ein Licht auf die gesamte Region von der Slowakei bis in die Ukraine hinein, wo Politik bisweilen häufiger mit Waffen betrieben wurde als in Oberschlesien oder Teschener Schlesien und wo die Transformation für die Menschen oft noch belastender war. Auch die lang anhaltende Gewalt und die damit verbundenen Traumata trugen später zum Anfachen ethnischer Konflikte zwischen Polen, Ukrainern, Litauern, Juden und anderen bei.
Die Autoren verorten die Keime künftiger Kriege vor allem in den umstrittenen Grenzen zwischen Deutschland, Polen und der Tschechoslowakei. Nach der Lektüre des Buches erscheint dieses Urteil aber zu kurz gegriffen. Zwar kann Demokratisierung Hand in Hand mit Nationalisierung gehen, doch war es keineswegs vorbestimmt, dass die Folgen erbitterte Feindschaft oder eine autoritäre Entwicklung sein mussten. Theoretisch wäre auch ein friedliches Nebeneinander oder gar eine neue Welle demokratischer Reformen denkbar gewesen. Andererseits konnte, wie Jesse Kauffman argumentiert hat, die von vielen Deutschen empfundene Demütigung durch den Verlust besetzter Gebiete als Mobilisierungspotenzial für künftige Kriege dienen.3 Am Ende entscheiden konkrete Personen, Ereignisse und Interessen über den weiteren Gang der Geschichte. Außerdem zeigen die Autoren, dass die Erinnerung an die Transformationsprozesse selbst langfristig Konfliktstoff bot: Demokratisierung und Empowerment für einige bedeuteten immer auch Machtverlust und Frustration für andere, was tiefe Spuren im kollektiven Gedächtnis hinterließ.
Insgesamt bietet das Buch einen frischen, reichhaltigen Blick auf eine Epoche, in der sich Ostmitteleuropa neu erfand – eine Zeit, in der alte Imperien zerbrachen und neue politische Ordnungen erprobt wurden, lange bevor sich die Schatten des Zweiten Weltkriegs über den Kontinent legten. Auch wenn der politikwissenschaftliche Zugriff manche Facette ausspart, gewinnt der Leser doch ein differenziertes, vielschichtiges Verständnis dieser Jahre. Es wird deutlich, dass die frühen Nachkriegsjahre weit mehr waren als ein bloßer Übergang zur Zwischenkriegszeit. Sie waren ein Schlüsselmoment für das gesamte 20. Jahrhundert, in dem sich die Möglichkeiten und Grenzen demokratischer Neuerungen, nationaler Identitäten und sozialer Gleichberechtigung auf eine Weise zeigten, die unser Verständnis von Transformation bis heute prägt.
Über den Autor:
Maciej Górny ist Professor und Vizedirektor für wissenschaftliche Angelegenheiten am Tadeusz Manteuffel-Institut für Geschichte der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau. Er promovierte zu marxistischer Geschichtswissencshaft in Ostmitteleuropa und ihrem Verhältnis zu den nationalen Traditionen der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts. Seine Habilitation erschien 2019 als englischsprachige Übersetzung unter dem Titel “Science embattled: Eastern European Intellectuals and the Great War”.
Zitiervorschlag: Maciej Górny, „Transformationsgeschichte 1.0: Ein Kommentar zu Demokratisierung an den Grenzen der Nation. Parlamente, Räte, Volksabstimmungen. Das Dreiländereck Deutschland – Polen – Tschechoslowakei 1918–1921 von Steffen Kailitz, Matthäus Wehowski und Sebastian Ramisch-Paul”. In: Denken ohne Geländer. Der Blog des Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. vom 08.10.2025: https://haitblog.hypotheses.org/7449.
Beitragsbilder
Bild 1: Herder Verlag (mit freundlicher Genehmigung)
Bild 2: Adrian Grycuk (CC-BY-SA 3.0.-PL)
- Vgl. Matthäus Wehowski, Deutsche Katholiken zwischen Kreuz und Fahne. Konfessionelle Mobilisierung und nationale Aushandlungsprozesse in Slawonien und Ost-Oberschlesien (1922–1926), Marburg 2020. [↩]
- Vgl. Steffen Kailitz/Matthäus Wehowski/Sebastian Ramisch-Paul, Demokratisierung an den Grenzen der Nation. Parlamente, Räte, Volksabstimmungen. Das Dreiländereck Deutschland – Polen – Tschechoslowakei 1918–1921, Marburg 2024, S. 280. [↩]
- Jesse Kauffman, Elusive Alliance: The German Occupation of Poland in World War I, Cambridge 2015, S. 217–219. [↩]
OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
haitblog (8. Oktober 2025). Transformationsgeschichte 1.0. Denken ohne Geländer. Abgerufen am 14. November 2025 von https://doi.org/10.58079/14vk1

